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Artikel 86 / 107

SPIEGEL-GESPRÄCH »Hegel hat gewonnen«

Die Philosophen Peter Sloterdijk, Konrad Paul Liessmann und Rüdiger Safranski über die Aktualität Hegels und die Spur des »Weltgeistes« - von der Französischen Revolution und dem totalitären Terror Stalins bis hin zu Mauerfall und neuem Europa
Von Elke Schmitter und Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 14/2007

SPIEGEL: Professor Liessmann, was geht uns die »Phänomenologie des Geistes«, die vor 200 Jahren erschien, heute an?

Liessmann: Sie ist ein Sprachkunstwerk und gerade im Jahr der Geisteswissenschaften eine positive Provokation, weil Geist hier noch in seiner umfassenden Pracht begriffen wird, Wissenschaft, Kultur, Religion, alles einbeziehend. Die von Hegel formulierte Dialektik ist eine Bewegung voller Übergänge und Vorläufigkeiten. Hegel ist der einzige Philosoph, der das getan hat, was wir so gern proklamieren: Er hat tatsächlich vernetzt, rekursiv und dynamisch gedacht. Ohne Hegel-Lektüre bleiben diese modischen Begriffe leere Worthülsen.

SPIEGEL: Herr Sloterdijk, ist Hegel ein Zeitgeist-Philosoph?

Sloterdijk: Mehr noch, er hat das Konzept Zeitgeist miterfunden. Hegel möchte die von Kant geerbte Spaltung zwischen Erkenntnistheorie und Gegenstandstheorie überwinden und uns ins volle Leben zurückversetzen, so wie Mephisto den dürren Doktor Faust aus der Stube lockt. Mit Hegel bleibt man nicht hinter den Gitterstäben einer sich selber misstrauenden Reflexion sitzen.

SPIEGEL: Die »Phänomenologie«, Herr Safranski, soll, so geht die Legende, im Kanonendonner der Schlacht bei Jena fertiggestellt worden sein. Hegel sah Napoleon vorbeireiten, und er war ergriffen, er sah den Weltgeist zu Pferde. Seine romantischen Freunde sahen das anders.

Safranski: Gewiss. Wer nicht, wie Hegel, mit dem Weltgeist konspirierte und sich deshalb einbilden konnte, ihn eigentlich schon gedacht zu haben, noch ehe es ihn gab, der sah das anders, auch in Anbetracht einer marodierenden französischen Soldateska. Kleist zum Beispiel forderte: »Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!« Überhaupt muss man sagen, das Verhältnis der deutschen Dichter und Denker zu Napoleon war höchst ambivalent, ein Gemisch aus Bewunderung und Hass. Vielleicht gilt die Grundregel: Wer einen unterwirft, sollte wenigstens grandios sein. Nicht diese läppischen Landesfürsten, sondern eben ein Genie; ob ein finsteres oder helles, darum ging dann der Streit.

SPIEGEL: Bei Dialektik denkt man heute eher an das mechanische Geklapper von These-Antithese-Synthese, an vulgärmarxistische Klassenkampftheorien, an Materialismus, letztlich an Blutbäder und Schlachthöfe. In ihrer gedanklichen Konzeption aber war die Dialektik der Liebe abgeschaut: Der Liebende entfremdet sich von sich selbst, verliert sich im Geliebten, um sich in einer höheren Form der Einheit wiederzufinden. Sehr romantisch ...

Sloterdijk: ... aber auch sehr konkret. Hegel hat mit 41 Jahren die 20-jährige Marie von Tucher geheiratet, gegen anfängliche Widerstände dieser Nürnberger Patrizierfamilie, die von der Satisfaktionsfähigkeit eines Philosophen-Lehrers nicht überzeugt war. In der Anfangszeit ihrer Beziehung schrieb Hegel seiner Braut einen kritischen Liebesbrief - zu solchen Dingen sind wirklich nur Philosophen fähig. Der Vorgang ist extrem erhellend: Marie hatte in einem ihrer Briefe einen Unterschied gemacht zwischen seiner Liebe zu ihr und ihrer Liebe zu ihm. Da musste er zum Rotstift greifen und die Dinge richtigstellen: Falsch, meine Teure, schrieb er zurück, es gibt in Wahrheit nur unsere Liebe, von der meine und deine Gefühle jeweils nur Pole sind.

SPIEGEL: In Hegels Vorlesungen herrschte eine fast kultische Stille, obwohl er kein guter Redner war und einen starken schwäbischen Akzent hatte.

Safranski: Wenn er vom »Etwas« sprach, klang es wie »Ebbes«. Er hat sich sehr bescheiden und ein wenig raunend als eine Art Medium für den Weltgeist begriffen. Bei Freud ist das »Es« für Sexualität und Schweinekram zuständig, Hegel aber hätte gesagt: »Es« denkt, nicht »ich« denke. Das »Es« wohnt bei Hegel nicht im Keller, sondern im Dachstübchen mit Zutritt zur Belle Etage.

SPIEGEL: Tatsächlich hat er mal gesagt: »Was in meinen Büchern von mir ist, ist falsch.«

Sloterdijk: Hegels Position ist die letzte starke kontemplative Position in der Philosophiegeschichte. Das ist ziemlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass wir aus der Wirkungsgeschichte, vor allem auf dem linken Flügel ein völlig anderes Hegel-Bild

mitbekommen haben. In dem herrscht der Terror des Realen, zu dem sich nach 1789, der Französischen Revolution, alle Militanten bekannt haben. Für sie heißt die Devise: Der Krieg geht weiter.

SPIEGEL: Folgerichtig hieß es dann beim Jung-Hegelianer Karl Marx: Es komme nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Hegel wurde aktivistisch gelesen. Auch Rudi Dutschke hatte ja das Gefühl, er hake den Weltgeist unter. Alles ein großes Missverständnis?

Sloterdijk: Für Dutschkes Hegel-Kenntnisse möchte man nicht die Hand ins Feuer legen. Hegel ist ja der letzte große Ireniker, das heißt ein Friedenslogiker, der am Sonntag des Lebens, am Sonntag der Weltgeschichte philosophiert. Es ist der siebente Tag, an dem Gott geruht hat, und die Sabbat-Ruhe Gottes teilt auch diese »letzte Philosophie«. Hegel spricht das in seiner Antrittsvorlesung 1818 vor staunendem Berliner Publikum offen aus: Wenn Sie meine Vorlesung besuchen, dann nehmen Sie an jenen Sonntagen des Lebens teil, welche die eigentliche Erfüllung der Existenz bedeuten.

Safranski: Wobei man dazu sagen muss: Zugleich ist er in seiner Position auch ein Schlachtenbeobachter. Mit der Gelassenheit des Beobachtens durchquert er, wie er auch gern drastisch und sehr stark und pathetisch ausdrückt, die Schädelstätten des Geistes. Und in jenen Tagen gab es buchstäbliche Völkerschlachten ...

SPIEGEL: Dazu sagt Hegel: Das ist sozusagen das notwendige Bewegungsgesetz des Weltgeistes. Menschenopfer müssen also in Kauf genommen werden?

Safranski: Schon im Denken geht es ja um Machtfragen, um Schlachten. Eines der genialsten Kapitel in der »Phänomenologie« ist ja das über Herr und Knecht. Da geht es nicht um Klassenkampf, sondern um Diskursbewegungen: Wenn zwei Bewusstseine sich treffen, gibt es unterschwellig immer einen Überlebenskampf. Das Bewusstsein A fühlt sich durch das Auftreten eines Bewusstseins B substantiell gefährdet. Jetzt schildert er diesen Kampf der Selbstbehauptung des Bewusstseins gegenüber dem fremden Bewusstsein. Es ist eine furiose Dynamik, die da losgetreten wird, die sich dann auf allen Ebenen der Geschichte natürlich wiederholt.

SPIEGEL: Ist da nicht, im Unterschied zu Kant, schon eine im Keim angelegte Inhumanität des Denkens? Hat Hegel unwillentlich die Gulags im Voraus legitimiert?

Sloterdijk: Für Gulags ist nur verantwortlich, wer sie errichtet. Dennoch ist die Metapher vom Sonntag des Lebens alles andere als harmlos. Denn am Tag des Herrn tritt die Gemeinde an den Altar und bringt ihre Opfergaben dar. Safranski hat die Metapher von den Schädelstätten erwähnt - und wo Schädel liegen, da ist vom Leben nur ein knöchernes Resultat übrig. Hegel ist in der Tat der große Logiker des Opfers, weil er auf das absolute Resultat hinaus will. Man darf wohl sagen, in diesem Streben nach dem Endergebnis verbirgt sich ein totalitäres Motiv.

SPIEGEL: Das hört sich nicht sehr menschenfreundlich an.

Sloterdijk: Der Mangel an Menschfreundlichkeit, besser, der fehlende Respekt vor dem Individuum, war für die Jung-Hegelianer ein wesentlicher Angriffspunkt. Zum Beispiel für Kierkegaard, der eine existentialistische Fundamentalopposition gegen Hegel aufbaute. Seine These lautet: Die Wahrheit ist nur im Einzelnen, das Allgemeine ist die Unwahrheit. Mit einem Mal stehen Kant und Kierkegaard auf derselben Seite der Barrikade, weil sie beide das Individuum nicht opfern wollen.

SPIEGEL: Es gibt einen inhärenten Optimismus in Hegels System, eine unbedingte Fortschrittsgläubigkeit: Der Weltgeist kommt zu sich selber, er schreitet unaufhaltsam voran. Heute ist das Weltgefühl doch eher verdüstert, der Geist, fürchten viele, weht bald über verbrannte Erde. Hat Hegel verloren?

Liessmann: Er hat gewonnen. Er hat doch immer vom Reich der Freiheit gesprochen, und dem sind wir nach dem Kollaps des Kommunismus doch näher gekommen - oder? Am Ende sollte bei Hegel jedenfalls die Entfaltung der Geschichte hin zur Freiheit stehen, wie er sie ja im bürgerlichen Rechtsstaat zumindest der Idee nach vollendet gesehen hat.

SPIEGEL: Wenn wir nun Europa feiern und die Idee freier und friedlicher Staatengemeinschaften, dann ist das eine Hegelsche Vision?

Liessmann: Im Prinzip ja, wenn sich diese Staatengemeinschaft auf die menschenrechtliche Tradition gründet. Die Marxsche Pointe bestand doch darin zu behaupten: Die bürgerliche Verfassung ist noch nicht das Ende, sie kann überschritten werden

im Hinblick auf ein anderes, sozialistisches Modell von Gesellschaft, das Freiheit nicht nur formell, sondern in all ihrer Fülle verwirklicht. Und das ist widerlegt. Nicht Hegel, sondern Marx hat verloren.

SPIEGEL: Die Geschichte - der Weltgeist - hat uns eines Besseren belehrt?

Liessmann: Ja, der bürgerliche Rechtshorizont ist nicht nur nicht überschreitbar, sondern wir erleben gegenwärtig Anzeichen eines Rückfalls hinter diesen schon erreichten Zustand. Ich verweise nur auf Ihren Titel über den Islamismus vor einer Woche. Und das ist das Spannende, dass man Hegel kritisch gegen diejenigen anführen kann, die mit Verweis auf Religionsfreiheit und Gruppenrechte den bürgerlichen Rechtszustand aushöhlen.

Sloterdijk: Doch neben dem bereits entschiedenen Duell zwischen Hegel und Marx gibt es noch ein zweites, das seltener wahrgenommen wurde: die Konstellation von Hegel mit Darwin. Da stehen zwei große Evolutionisten gegeneinander, und ihre Schlacht ist noch nicht ausgefochten. Auf seine Weise sagt auch Darwin: Der Kampf geht weiter, und zwar der Kampf der Tauglichen gegen die Untauglichen, selbst inmitten der Kultur. Ähnlich hatten die Marxisten doziert, dass der Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten weitergeht - ungeachtet der Tatsache, dass wir im bürgerlichen Rechtsstaat leben. Ich glaube, an dieser Front stellt sich das heutige Denken auf: Wir sehen jetzt eine Titanenschlacht zwischen naturalistischen Weltauslegungen und der allgemeinen Kulturtheorie. Das ist der große Kampf unserer Zeit.

SPIEGEL: Wem drücken Sie die Daumen?

Sloterdijk: Hier kann man nur auf einen Sieg der hegelianischen Position hoffen, insofern sie diejenige ist, die die Rückfälle in ein Denken verhindern könnte, in dem das Gesetz des Stärkeren herrscht. Wir sind zum Erfolg der Kultur verdammt. Doch ist Darwin keineswegs ein Gegner, dessen Erkenntnisse man mit bloßen idealistischen Argumenten zurückweisen könnte - seine Theorie liefert wichtige progressiv interpretierbare Elemente. Außerdem steckt im Begriff der »fitness«, auf das Kulturwesen Mensch angewendet, eine tiefe Ironie. Im Sinne von kultureller Fitness ist witzigerweise derjenige Mensch der tauglichere, bei dem sich die Fortschritte in der Geistigkeit und der Einfühlung in andere überzeugender darstellen.

SPIEGEL: Es ist eine Frage des Menschenbildes: Ist der Mensch bloße Bio-Maschine und völlig determiniert, oder hat er die Würde des Geistes. Gibt es da nicht eine theologische Grundfigur beim Pietistensohn Hegel? Der Weltgeist als in sich ruhender träumender Gott, der sich die Welt erschafft und den Menschen, um sich selber anschauen zu können. Wie Gott sich sein auserwähltes Volk schuf, damit es ihm opfert?

Sloterdijk: Hegel sagte - um eine Freudsche Formel zu gebrauchen -, wo Religion war, soll Philosophie werden. Unter diesem Gesichtspunkt war keine Zeit antihegelianischer als die heutige, weil wir allesamt ja teilnehmen - mit mehr oder weniger starker Migräne dabei - an dieser Entwicklung, die man die Wiederkehr der Religion nennt und die sich ja gewissermaßen damit erklärt, dass die Menschen jetzt sozusagen in ein allgemeines Anti-Hybris-Programm hineingenommen werden müssen.

Safranski: Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir den Ausdruck »Geist« durch Reflexion ersetzen. Wenn die Naturwissenschaftler und Gehirnforscher mit starker These behaupten, es gebe nur einen neuronalen Determinismus, dann würde Hegel - hegelianisch reflexiv argumentierend - jetzt darauf aufmerksam machen, dass ja offenbar derjenige, der diese starke These vertritt, es gebe nur diesen biologischen Determinismus, seine eigene Freiheit in Anspruch nimmt, um solche kühnen Thesen aufzustellen. Da benützt ein Kopf seine Freiheit dazu, sich seine Freiheit wegzudenken. Diesen Unsinn bemerkt man bei der Reflexion, beim Denken. Deshalb übrigens hat Heidegger, ganz im Geiste Hegels, den frechen Satz formuliert: »Die Wissenschaft denkt nicht ...« Man kann also forschen, ohne sich etwas dabei zu denken. Das Tal der Ahnungslosen finden wir auch auf den Hochebenen der Forschergemeinschaften.

SPIEGEL: Wie steht Hegel zum Staat? War er der Apostel der Anpassung an den preußischen Obrigkeitsstaat? Seinen Satz »Was wirklich ist, das ist vernünftig« kann man als Verherrlichung der bestehenden Verhältnisse lesen.

Liessmann: Nein, nein! Davor schützt ja der erste Teil dieses Satzes: »Was vernünftig ist, das ist wirklich.« Hegel markiert den Anspruch, Politik nicht als Interessenspolitik zu verstehen, sondern als Durchsetzung des Vernünftigen, ob in der sozialen Sphäre oder im Recht, und das geht nur über das Medium der Reflexion.

SPIEGEL: Der Glaube daran, dass sich das Vernünftige durchsetzen würde, hat mit dem Mauerfall von 1989 und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems mächtig Nahrung erhalten. Hegel, der stets

am 14. Juli, dem Tag der Französischen Revolution, eine Flasche Wein köpfte, hätte sicher auch auf den Mauerfall angestoßen.

Sloterdijk: Am liebsten mit Bordeaux. Deutsche Weine trank er nur, wenn er sich die französischen nicht leisten konnte - vermutlich war das der Fall, als er an der »Phänomenologie« arbeitete.

SPIEGEL: Es gab einen hegelianischen Euphorie-Schub 1989. Francis Fukuyama sprach vom »Ende der Geschichte«. Ein wenig verfrüht, die Begeisterung, oder?

Liessmann: Das hatte, bei aller Häme, die man über Fukuyama ausgegossen hat, natürlich etwas für sich. Neben der von Fukuyama propagierten Kombination von bürgerlicher Rechtsordnung und entwickelter Marktwirtschaft ist zurzeit kein anderes Gesellschaftsmodell denkbar. Und der Weltgeist in Form der Vereinigten Staaten exekutiert das jetzt: Export bürgerlicher Demokratie plus Kapitalismus überall hin, und wenn es sein muss, mit Waffengewalt - die zeitgeistige Variante von Hegels berüchtigter List der Vernunft.

SPIEGEL: Die Vereinigten Staaten als der neue Napoleon?

Liessmann: Na ja, man muss es nicht zu weit treiben. Von der Weltseele ist die Bush-Administration doch noch ein gutes Stück entfernt. Aber jeder Globalisierungstheoretiker oder auch -praktiker, der diese Entwicklung als den notwendigen Gang der Geschichte akklamiert, ist, ohne es zu wissen, eigentlich verkappter Hegelianer.

SPIEGEL: Was ist mit denen, die dagegen Widerstand leisten? Handeln die vernünftig? Nach Hegel wohl nicht.

Sloterdijk: Der bedeutendste Hegelianer des 20. Jahrhunderts, Alexandre Kojève, hat für die Menschheit nach dem Ende der Geschichte, nicht ganz ohne Bosheit, nur noch drei Optionen gesehen: Entweder du wählst den Weg des Weisen, dann vollziehst du die Gedanken Hegels nach; oder du entscheidest dich dafür, ein glückliches Tier zu werden, das heißt, du wählst den American Way of Life; oder du votierst für den Weg des Künstlers, der alle Lebensprobleme in ein Spiel mit Formen übersetzt, so wie Kojève dies in Japan, dem Land der puren Gesten und des ästhetischen Snobismus erlebt hat. Was interessanterweise nicht mehr vorkommt, ist die Figur des Kämpfers. Für unsere braven Jung-Hegelianer, die weiter kämpfen wollen, stellt das eine ernste Herausforderung dar. Könnte es sein, dass sie nur Menschen sind, die sich im Zeitalter geirrt haben? Oder gibt es auch heute noch eine sinnvolle Militanz? Auf jeden Fall ist der linke Faschismus auf der Linie Lenins, der das Töten für das Gute legitimierte, unmöglich geworden - die Praxis der RAF war davon ein Ableger. Wenn Militanz weiterhin sinnvoll ist, dann nur unter dem Primat legaler Mittel.

SPIEGEL: Gehören die Attac-Kämpfer in Heiligendamm dazu?

Sloterdijk: Die Attac-Kämpfer sind schon auf dem richtigen Weg, denke ich, denn: Sie begreifen mehr oder weniger explizit, dass nicht der Zweck die Mittel heiligt, sondern dass die Mittel die Wahrheit über den Zweck sagen.

Safranski: Man macht eine überraschende Erfahrung: Als Hegelianer bekennen sich jetzt gar nicht mehr so viele.

Liessmann: Er ist eine Persona non grata in der zeitgenössischen Philosophie.

SPIEGEL: Warum?

Liessmann: Hegel galt schon seinen unmittelbaren Nachfahren als »toter Hund«, und heute ist es ähnlich. Er scheint weder in den sprachanalytischen Mainstream der Gegenwartsphilosophie noch in die grassierenden Ethikdebatten aller Art zu passen. Manche Beobachter wittern in Hegel sogar einen Sonderweg, der den deutschen Philosophen über Jahrzehnte den Anschluss an die internationale Entwicklung vermasselt hat. Die Pointe dabei: Die Vorstellung, dass es irgendwo den Fortschritt im Denken und daneben irrige Sonderwege gäbe, ist selbst eine Hegelsche Denkfigur und nur auf Basis seiner Geschichtsphilosophie möglich.

Safranski: Das Tolle dabei ist, dass Hegel Räume aufgeschlossen hat, die man betritt, ohne zu bemerken, dass man den Schlüssel von Hegel hat. Häufiger, als es unserer Eitelkeit guttut, sind wir Untermieter bei Hegel.

SPIEGEL: Wörter wie »These« oder »Widerspruch« sind in den allgemeinen Sprachgebrauch abgesickert.

Safranski: Nicht nur das. Dass sich zu jeder festgewordenen Wirklichkeit eine Bewegung denken lässt, die das wieder auflöst - sei es innerlich, sei es äußerlich -, das ist eine Art der Aufmerksamkeit, die wir Hegel verdanken, ohne Hegel gelesen haben zu müssen. Das setzt sich auf verschiedenen Ebenen fort. Immer geht es dabei um Auflösung des Verfestigten durch Reflexion. Ein Dialektiker sagt: »Muss ich schon wieder meiner Meinung sein?«, und wechselt sie.

SPIEGEL: Herr Safranski, im Herbst kommt Ihr Buch über die »Romantik« heraus, die Sie im Untertitel »Eine deutsche Affäre« nennen. Was ist romantisch an Hegel, und was ist besonders deutsch an ihm?

Safranski: Romantisch ist sicher der Zug ins Anarchische, ins Auflösende. Novalis hat diesen schönen Ausdruck geprägt: Was ist Philosophie? Philosophie ist

Vivifizieren, ist, Versteinerungen wieder aufzulösen.

SPIEGEL: Das wäre der Hippie-Anteil an Hegel. Gibt es auch den deutschen Sturkopf?

Safranski: Ganz sicher. Es gibt bei Hegel die Tendenz, den Geist, den eigenen, auf der stärkeren Seite, also bei der Obrigkeit, zu investieren. Das erinnert mich dann manchmal an Heinrich Manns »Untertan«, der, von einem Offizier gedemütigt, dennoch stolz erklärt: »Den macht uns so schnell keiner nach.«

SPIEGEL: Herr Sloterdijk, wären Sie gern Hegels Kollege gewesen, hier an der Humboldt-Universität?

Sloterdijk: Kein Mensch, der bei Trost ist, würde freiwillig in jener Epoche leben wollen - Hegels Berliner Jahre, 1818 bis 1831, waren eine der ödesten Perioden der Weltgeschichte, sie waren nur durch die Flucht in die Spekulation und die Musik zu überleben. Ich gehöre in eine völlig andere Zeit, ich datiere meine Arbeit weniger nach Hegel als nach Friedrich Nietzsche.

SPIEGEL: Die Philosophie, die Geisteswissenschaften insgesamt scheinen zu Hegels Zeit einen ungleich höheren gesellschaftlichen Stellenwert gehabt zu haben.

Sloterdijk: Vermutlich deswegen, weil damals zwei Arten von Eliten ineinander übergingen: die der alten ständischen Gesellschaft und die der neuen unternehmerischen und medialen Gesellschaft. Hegel konnte sich, weil er selbst ein logischer Aufsteiger war, in den großen Usurpator seiner Epoche, Napoleon, bestens einfühlen. Er wollte gewissermaßen die Software zur Hardware Napoleons liefern, so wie Kojève der Bauchredner Stalins sein wollte.

SPIEGEL: Botho Strauß sagte einmal: Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer ...

Liessmann: ... und er fährt fort: »Aber es muss sein: ohne sie!« Das ist die Pointe. Strauß war offenbar die dialektische Geläufigkeit unheimlich, die alles in Siege verwandelte und je nach politischer Lust und erotischer Laune mit Haupt- und Nebenwidersprüchen jonglierte, dass es nur so eine Freude war.

Sloterdijk: Aber ob mit oder ohne Dialektik, zwei Probleme bleiben unbewältigt. Das eine ist, dass Hegel die Kunst zu früh verabschiedet hat. Kunst ist nicht mehr höchstes Bedürfnis des Geistes, sondern bloßes Dekor. Sicher genügt ein Blick auf den Kunstbetrieb, um zu wissen, dass er oft recht hat, doch es gibt einen kleinen Rest, der Widerstand leistet. Das zweite Problem betrifft die Frage der Technik, sie ist der Prüfstein des zeitgenössischen Denkens, und an ihr gemessen, fällt das gesamte idealistische Erbe stark zurück.

SPIEGEL: Bei der Entstehungsgeschichte der »Phänomenologie« ist ja nicht der Kanonendonner von Jena das Erstaunliche, sondern dass Hegel in diesen Zeiten sein Manuskript - sein einziges - der Post anvertraut

hat. Da gab es noch keine Technologie der Back-ups.

Sloterdijk: Das zeigt, welches Urvertrauen er gehabt hat!

SPIEGEL: Der Weltgeist hat dafür gesorgt, dass seine »Phänomenologie« dennoch unters Volk kommt.

Sloterdijk: In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die umfassendste und tiefsinnigste Philosophie der Technik, die heute existiert, Heidegger möge verzeihen, aus der Feder eines Hegelianers stammt, nämlich von Gotthard Günther. Er hat eine hegelianische Theorie des Computers geschrieben. Das heißt, er zeigt, dass die mechanisierbaren Teile des Verstandesprozesses aus der Subjektivität herausverlegt werden können und dass große Teile dessen, was man fälschlich in den Bereich von Subjektivität und Seele verlegt hatte, jetzt umverteilt wird in den Bereich der intelligenten Materie. Das ist ein Abenteuervorgang.

SPIEGEL: Nun ist es also die Maschine, die dem Weltgeist bei der Selbsterkenntnis hilft?

Sloterdijk: So könnte man sagen.

SPIEGEL: Herr Liessmann, an einer Stelle heißt es: »Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten.« Sie haben in einer Polemik gegen die Merkantilisierung des Geistes geschrieben, Geist sei nur noch das, was bei »Wer wird Millionär« erstochert wird. Können wir von Hegel lernen?

Liessmann: Die Würde des Geistes bei Hegel ist: die Freiheit. Das ist genau das, was den Menschen dazu befähigt, über sich hinauszuwollen, also sich zu bilden. Es kann bei Bildung primär nicht um Nutzanwendungen gehen. Als er noch Rektor des Nürnberger Gymnasiums war, sagte Hegel einmal, dass nicht der sogenannte nützliche Stoff, sondern nur der geistige Inhalt, der um seiner selbst willen interessiert, die Seele des Kindes stärkt und diesem einen unabhängigen Halt gibt - und er

forderte diesen Halt ausdrücklich für alle Stände. Das wäre doch etwas für die Bildungspolitik von heute ...

SPIEGEL: ... getrieben durch nichts als den Hunger nach Erkenntnis.

Sloterdijk: Das ist es, weshalb die »Phänomenologie« so Furore gemacht hat beim deutschen Publikum. Die »Phänomenolo-

gie« ist ein Bildungsroman, sie ist der »Wilhelm Meister« für Begriffsakrobaten.

Safranski: Ein unabgeschlossener Roman. Hegel hat ja für das unglückliche Bewusstsein diese merkwürdige Erfahrung formuliert: Ich gehe in mich und verliere damit die Welt. Ich gehe in die Welt und verliere mich selbst. Und in seinem »Bildungsroman« zeigt er, dass beides kein Verhängnis sein muss. Es kann doch gelingen, in die Welt zu gehen, ohne sich zu verlieren, und in sich zu gehen, ohne die Welt zu verlieren. Der Geist bildet die verbindende Sphäre. Wichtig ist nur: Man darf sich selbst nicht mit einem Eigenheim und die Welt nicht mit einer Großbank oder mit Heuschrecken verwechseln. Besser ist es, Ich und Welt sich als große Party vorzustellen. Es war schließlich Hegel, der in der »Phänomenologie des Geistes« erklärt hat: »Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist.«

SPIEGEL: Wäre er zufrieden mit unserem Staat, unserer Politik?

Safranski: Kommt darauf an, ob wir vom jungen oder vom alten Hegel sprechen. Der alte hätte, wenn er eine gutausgestattete Professur hätte, seinen Frieden gemacht mit der Berliner Republik. Man muss als Philosoph nicht immer auf der Höhe seiner Theorie sein.

SPIEGEL: Meine Herren, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Nach der Legende in Jena 1806; Illustration in »Harper's Magazine«, 1895. * Auf dem Flugzeugträger USS »Abraham Lincoln« am 1. Mai 2003. * Mit den Redakteuren Elke Schmitter und Matthias Matussek (M.).

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